Die Jugendlichen der neunten Klassen hören gebannt zu, als Juliane Zarchi ihnen aus ihrem von Verfolgung und Gewalt gezeichneten Leben erzählt. Sie und ihre Familie wurden Opfer zweier Diktaturen – und sie engagiert sich noch heute, mit 78, im Zeitzeugenprogramm von Georg Hasenmüller, damit ihre Erinnerung in die junge Generation getragen wird.
Ihre Eltern dürfen 1935 aufgrund der Rassengesetze in Deutschland nicht heiraten, da der Vater Jude und die Mutter sogenannte „Arierin“ ist. Daher gehen sie in die litauische Heimat des Vaters, wo Juliane 1938 in Kaunas geboren wird. Doch schon 1941 marschieren die deutschen Truppen auf ihrem Weg nach Russland in Litauen ein und die Gewalt gegen jüdische Menschen tobt auch dort. Die dreijährige Juliane wird mit ihrem Vater ins Ghetto gezwungen und von der Mutter getrennt; ihr Vater wird schon kurz darauf von den Deutschen ermordet. Von der großen Familie des Vaters in Litauen überlebt nur die Großmutter, die sich um Juliane kümmert. Das Mädchen kann mit viel Glück dem Ghetto entkommen und lebt versteckt mit ihrer Mutter, bis die Deutschen im Spätsommer 1944 den Rückzug antreten und die Russen einmarschieren. Jetzt beginnt für die kleine Juliane eine kurze Zeit der Normalität mit Kindergarten, Freunden und Spielen.
Doch bereits im April 1945 ist die Normalität zu Ende: Die Sowjets sehen Juliane nicht mehr als jüdisches Kind, sondern sie und ihre Mutter gelten nun als deutsche Faschisten und man deportiert sie ins Pamir-Gebirge in Tadschikistan. Dort arbeiten sie zunächst, wie hunderttausende andere verbannte Menschen, unter härtesten Bedingungen: Sie müssen in großer Hitze Baumwolle pflücken; Zwangsarbeit, Hunger und menschenunwürdige Bedingungen prägen den Alltag. Nach und nach bessern sich ihre Lebensumstände und 1953, nach dem Tod Stalins, sind sie frei1956 werden Juliane und ihre Mutter als „unschuldig Verschleppte“ rehabilitiert; Juliane kann an der pädagogischen Hochschule studieren, 1962 kehrt sie nach Kaunas in Litauen zurück. Sie arbeitet zuerst als Lehrerin, später dann bis zu ihrer Pensionierung als Dozentin an der Universität Kaunas für deutsche Sprache und Literatur und lebt noch heute in Kaunas.
Zarchi begnügt sich nicht damit, die Vergangenheit für die Jugendlichen erlebbar zu machen, sondern sie zieht auch die Parallelen zur Gegenwart, indem sie daran erinnert, dass, wenn in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Nachbarländer von Deutschland die Grenzen für die verfolgten Juden weit geöffnet hätten, weniger Juden hätten sterben müssen – dieser Gedanke sollte, so Zarchi, in die aktuelle Flüchtlingsdiskussion miteinfließen.
Ihre jungen Zuhörer sind fasziniert und auch bewegt: „Mich hat vor allem die Mimik von Frau Zarchi beeindruckt und die Geschichte, wie das kleine Mädchen aus dem Ghetto fliehen konnte“, sagt Lara Spano nach dem Vortrag. „Ich fand es auch unglaublich“, fügt Laura Such hinzu, „dass Juliane Zarchi nach dem Hitlerregime noch weiter diskriminiert wurde und Zwangsarbeit verrichten musste.“